Z. Kergomard: Wahlen ohne Kampf? Schweizer Parteien auf Stimmenfang, 1947–1983

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Titel
Wahlen ohne Kampf?. Schweizer Parteien auf Stimmenfang, 1947–1983


Autor(en)
Kergomard, Zoé
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
CHF 59.00
von
Hilmar Gernet

Die Spuren- und Fährtensuche nach Wahlkampf in der Schweiz war für Zoé Kergomard sehr ergiebig. Die Wahlkämpfe seit den 1940er bis in die 1990er Jahre galten hierzulande als «Nichtereignis», als «uninteressante» oder «höfliche Angelegenheit». Für «zelebrierten Wahlkampf» schien sich in der historischen Politikforschung kaum jemand zu interessieren. Diese «erstaunliche Forschungslücke» (S. 24) hat Zoé Kergomard mit ihrer Dissertation 2018 bei Damir Skenderovic und Brigitte Studer an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ü. gut angefüllt, selbstverständlich aber noch nicht geschlossen.

Weil Parteien nicht in der Lage sind, Wählerstimmen durch «nichts tun» zu gewinnen, bot sich der Historikerin im Wahlkampf-Tun ein weites Feld. Sie hat es mit ihrem Forschungsansatz breit, etwas zu breit abgesteckt. Vorgenommen hat sie sich, Wahlkampf-Spannungsfelder über ein halbes Jahrhundert unter parteipolitischen, organisationalen, kommunikativen, inhaltlichen, technischen und gesellschaftlichen Aspekten in der vermeintlich «erstarrten Schweizer Politik» darzustellen. Um den weitschweifenden Blick nicht zu verlieren, waren Einschränkungen unerlässlich. Sie fokussierte auf die vier grössten Parteien (CVP, FDP, SP, BGB / SVP), vier «historische Momente» (1947 Nachkriegswahl, 1959 Antikommunismus und Zauberformel, 1971 die Folgen von «1968» und die Frauenwahl, 1983 die beginnende Polarisierung und das Aufkommen der Grünen) und schliesslich drei Kantone mit je kulturellen, sprachlichen sowie konfessionellen Eigenheiten (Tessin, Waadt, Zürich).

Die «Kampagnenmaterialien» untersuchte sie mit den Methoden der Textanalyse, Visual History, narrativer Analyse und einem «entnaturalisierten Blick». Allerdings verschaffte der «entnaturalisierte Blick» als historisch-wissenschaftliche Erkenntnismethode, was immer damit gemeint sein mag, dem Rezensenten keinen analytischen Mehrwert; eine entsprechende Eingabe auf Duden.de ergab «keine Treffer». Die Forschungsreise dauerte sieben Jahre und die Expeditionsergebnisse werden – nach der Einleitung (weshalb eine Geschichte des Wahlkampfs?) und einer «historischen Einbettung» der Parteien – in fünf grossen Kapiteln und einem Schlusskapitel «Parteien und Wahlkämpfe im Wandel» auf 442 Seiten präsentiert. Dem Thema angemessen inszeniert Kergomard die Hauptkapitel entlang der «exemplarischen Handlungsphasen eines Wahlkampfs»: Vorbereitung (Ziele, Ressourcen), Definieren (Wählerschaft), Darstellen (von sich und der Welt erzählen), Verkörpern (Kandidierende) und Mobilisieren (Parteifeste / -kongresse, Alltag).

Die Untersuchung des riesigen Kampagnenmaterials bringt ihrerseits eine grosse Materialfülle hervor – eine Art Historien-Supermarkt mit schier unerschöpflichem Angebot. Geboten wird bereits Entdecktes: z. B. der SP-Wahlkampf 1959 mit Unterstützung der amerikanischen Werbeagentur NOWLAND Organization. Letztere versprach für das SP-Parteiprogramm die «besten Wirkungsbedingungen bei dem beeinflussbaren Wähler». Man wollte «einmal etwas Neues» wagen. Ein Problem sahen die «Parteikader» nur im «amerikanischen Ursprung» der Agentur. Sie befürchteten, die Bürgerlichen könnten dies im Wahlkampf «zum Schaden der SP» ausnutzen. Der «marktorientierte Charakter der Firma» oder ihre «Distanz zur Arbeiterbewegung» fielen nicht ins Gewicht (S. 98). Die FDP arbeitete mit der GfS (Schweizerische Gesellschaft für praktische Sozialforschung) zusammen. So half in der «unübersichtlichen, vermassten Gesellschaft», «ein repräsentatives Echo auf die eigenen Massnahmen» zu erhalten. Die Autorin macht für den Wahlkampf 1959 einen «neuen Wettbewerb» aus, zwischen den Parteien und zwischen «Umfragefirmen».

Erkenntnisse liefert auch der Wahlkampf 1971. Der «Eintritt der Frauen in den politischen Markt» verlieh ihm einen «ausserordentlichen Charakter». Er sollte zum «spannendsten Wahlkampf in diesem Jahrhundert» werden, schrieb ein SP-Sekretär (S. 121). Die «erhoffte Neulegitimierung der etablierten Politik» ist nach Kergomard 1971 nicht eingetreten. Aber das «dominante Staatsbürgergesellschaftsmodell des Bürger-Soldaten wurde in Frage [gestellt] und verankerte dauerhaft die Frage der politischen Repräsentation von Frauen in die politische Agenda» (S. 374). Im Ergebnis war der «historische Moment» der 1971er-Wahl nicht weltbewegend, immerhin brachte der Wahlkampf eine Premiere. Nach der helvetischen Malaise der 1960er Jahre mit ihrer «Krise der Parteien» und den «desinteressierten, wählerischen Standardbürgern», gaben sich die Parteien offen und «entideologisiert». «Die CVP ging in diesem Punkt am weitesten.» Sie schlug im Wahlkampf «Koalitionsgespräche» vor, denen ein «gemeinsames Regierungsprogramm» folgen sollte (S. 373).

Die Studie bietet auch Feuilleton; z. B. Wahlwerbekonzepte (FDP: «Zurück zum Wähler», 1983!); die «ersten (und letzten) Werbespots» (1971); Werbemittel (orange «Poschettli» für Männer, für Frauen orange Tüchlein mit der Aufschrift «Damen!») Welche Partei lockte wohl 1971 – neben den Männern – nicht Frauen, sondern Damen an die Wahlurnen? Die SRG wagte ein «Experiment»: Sie erlaubte den Parteien «PortraitSpots im Radio und Fernsehen (direkt nach der Tagesschau)». Max Frisch trat für die SP als «parteiloser Wähler» auf. Die FDP lies «einfache Bürger» Partei-Postulate vorstellen. Die Liberalen zeigten eine «Wettervorhersage». Der LdU produzierte ein «TV-Partnerquiz». Ein Clown warb für ein Sowohl-als-Auch der BGB: «Europäische Zusammenarbeit: Ja – aber auch nationale Unabhängigkeit» (S. 210 f.).

Die Masse der verschiedensten Ergebnis-Spots fordern selbst den sehr interessierten Leser. Der Grund liegt in der komplexen Grundstruktur und den (zu) vielen Ebenen, die in der Studie verwoben sind. Hilfreich wäre ein detaillierteres Personen- und Sachregister gewesen, um zu finden, bevor die Suche losgeht. Die dichten, klar formulierten Zwischenfazite sowie die stringenten Schlussreflexionen sind die grösste Stärke des Buches. Dazu gehört unter anderem die Erkenntnis, dass die Wahlkämpfe in der Schweiz «höchst kantonal geprägt und heterogen» bleiben (S. 381). Dem Wahlkampfforschungsfeuerwerk von Zoé Kergomard ist deshalb zu wünschen, dass vertiefende Studien folgen und weiter Licht in diese «zentralen Momente» (S. 139) der Politik bringen. Denn Wahlkämpfe sind mehr als «Rituale» (S. 36). Sie sind in einer demokratischen Gesellschaft die Orte, «um sich selbst zu beobachten und sich in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu zu denken» (S. 39).

Zitierweise:
Gernet, Hilmar: Rezension zu: Kergomard, Zoé: Wahlen ohne Kampf? Schweizer Parteien auf Stimmenfang, 1947– 1983, Basel 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 398-400. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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